Sunday 22 November 2015

Jahrhundertgedächtnis – Philipp Hartung 1998

A book, as you can see, that accompanied me for quite a while. A good companion on every playground. 



“Vor mir glitzernd der Kanal:
den Himmel spiegelnd, beide Ufer leise schaukelnd.” (Arno Holz in Hartung, 1998, p.29).

„zwischen weggeworfnem Stullenpapier und Eierschalen
suchen sie die blaue Blume.” (Arno Holz in Hartung, 1998, p.30).

„Von allen Bergen drücken
Nebel auf die Stadt;
Es dringt kein Dach, nicht Hof noch Haus,
kein Laut aus ihrem Rauch heraus,
kaum Türme noch und Brücken.“ (Richard Dehmel ‘Die Stille Stadt’ in Hartung, 1998, p.31).

„Und du merkst es nicht im Schreiten,
wie das Licht verhundertfältigt
sich entringt den Dunkelheiten.
Plötzlich stehst du überwältigt.“ (Richard Dehmel ‘Die Stille Stadt’ in Hartung, 1998, p.32).

“Er macht die leere Luft beengend kreisen.” (Hugo von Hoffmannsthal ‘Der Prophet’ in Hartung, 1998, p.38).

„Was frommts, dergleichen viel gesehen haben?
Und dennoch sagt der viel, der ‚Abend’ sagt,
Ein Wort, daraus Tiefsinn und Trauer rinnt

Wie schwerer Honig aus den hohlen Waben.“ (Hugo von Hoffmannsthal ‘Ballade des äusseren Lebens’ in Hartung, 1998, p.39).

„So wie ein Mensch nach lärmendem Gelag
Noch spät zu Mitternacht nicht schlafen mag
Und seine Ruh erst findet knapp vor Tag;

Und süß erst schläft beim hellen Morgenschein,
So reichte in die Jugend mir hinein
Versäumter Schlaf von seinem vorigen Sein,

O wüßt ich doch, was mich nicht schlafen ließ!
Ob mich ein Gott vom Bacchanal verstieß?
Ob ich betrunken kam vom Paradies?“ (Christian Wagner ‘Spätes Erwachen’ in Hartung, 1998, p.45).

„Er trägt sein Kreuz und sagt nur: ‚Meine Mutter!’
Und sieht sie an, und: ‚Ach, mein lieber Sohn!’
Sagt sie. – Nun hat der Himmel mit der Erde
Ein stumm beklemmend Zwiegespräch. Dann geht
Ein Schauer durch den schweren, alten Leib:
Sie rüstet sich, den neuen Tag zu leben.
Nun steigt das geisterhafte Frühlicht. Nun
Schleicht einer ohne Schuh von einem Frauenbett,
Läuft wie ein Schatten, klettert wie ein Dieb
Durchs Fenster in sein eigenes Zimmer, sieht
Sich im Wandspiegel und hat plötzlich Angst
Vor diesem blassen übernächtigen Fremden,
Als hätte dieser selbe heute nacht
Den guten Knaben, der er war, ermordet
Und käme jetzt, die Hände sich zu waschen
Im Krüglin seines Opfers wie zum Hohn,
Und darum sei der Himmel so beklommen
Und alles in der Luft so sonderbar.
Nun geht die Stalltür. Und nun ist auch Tag.“ (Von Hofmannsthal ‘Der Schiffskoch, ein Gefangner singt:’ in Hartung, 1998, p.51).

„In jedem Ding ist sein Gift verborgen,
Das es ihm selber widerspenstig macht;
Und so entwird zum Gestern jedes Morgen;
Und jede Morgenröte wird zur Nacht.

Was einmal ausser sich gestellt,
Zersprengt sich selbst vor Haß. So wächst die Welt.“ (Rudolf Alexander Schröder in Hartung, 1998, p.62).

„Die Schleusen knirschten. Abenteuer brach aus allen Fernen.“ (Ernst Stadler ‘Vorfrühling’ in Hartung, 1998, p.77).

„Der Schnellzug tastet sich und stößt die Dunkelheit entlang.
Kein Stern will vor. Die ganze Welt ist nur ein enger, nachtumschienter Minengang.
(...)
Nun taumeln die Lcihter her .. verirrt, trostlos vereinsamt .. mehr .. und sammeln sich .. und werden dicht.“ (Ernst Stadler ‘Fahrt über die Kölner Rheinbrücke bei Nacht’ in Hartung, 1998, p.77).

„Heute fährt der Gott der Eelt auf einem Floße,
Er sitzt auf Schilf und Rohr,
Und spielt die sanfte, abendliche, große,
Und spielt die Welt sich vor.

Er spielt das große Licht der Welt zur Neige,

(...)

Doch alles wie zu stillem Genusse
Den Augen bloß, dem Ohr.
So fährt er selig auf dem großen Flusse
Und spielt die Welt sich vor.

So fährt sein Licht und ist bald bei den größern,
Orion, Schwan und Bär:
Sie alle scheinen Floße schon mit Flößern
Der Welt ins leere Meer.“ (Oskar Loerke ‘Pansmusik’ in Hartung, 1998, p.79).

„Ein armer Hirnhund, schwer mit Gott behangen.
Ich bin der Stirn so satt. Oh, ein Gerüste
Von Blütenkolben löste sanft sie ab
Und schwölle mit und schauerte und triefte.“ (Gottfried Benn ‘Untergrundbahn’ in Hartung, 1998, p.84).

„Schaudernd unter herbstlichen Sternen
Neigt sich jährlich tiefer das Haupt.“ (Georg Trakl ‘In ein alter Stammbuch’ in Hartung, 1998, p.89).

„Der Sturm ist da, die wilden Meere hupfen
An Land, um dicke Dämme zu zerdrücken.
Die meisten Menschen haben einen Schnupfen.
Die Eisenbahnen fallen von den Brücken.“ (Jakob van Hoddis ‘Weltende’ in Hartung, 1998, p.94).

„Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.“ (Georg Heym ‘Der Krieg’ in Hartung, 1998, p.97).

„Wenn die Abende sinken
Und wir schlafen ein,
Gehen die Träume, die schönen,
Mit leichten Füßen herein.

Zymbeln lassen sie klingen
In den Händen licht.
Manche flüstern, und halten
Kerzen vor ihr Gesicht.“ (Georg Heym ‘Träumerei in hellblau’ in Hartung, 1998, p.99).

„Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben
Nur in dem Laub der großen Bäume sausen
Muß man in Flüssen liegen oder Teichen
Wie die Gewächse, worin Hechte hausen.

Der Leib wird leicht im Wasser. Wenn der Arm
Leicht auf dem Wasser in den Himmel fällt
Wiegt ihn der kleine Wind vergessen
Weil er ihn wohl für braunes Astwerk hält.“ (Berthold Brecht ‘Vom Schwimmen in Flüßen und Seen’ in Hartung, 1998, p.109).

„An der sonnengewohnten Straße, in dem
hohlen halben Baumstamm, der seit lange
Trog ward, eine Oberfläche Wasser
In sich leis erneuernd, still’ ich meinen
Durst: des Wassers Heiterkeit und Herkunft
In mich nehmend durch die Handgelenke.
Trinken schine mir zu viel zu deutlich;
Aber diese wartende Gebärde
Holt mir helles Wasser ins Bewußtsein.“ (Rainer Maria Rilke in Hartung, 1998, p.114).

„Wo sind nun meine Tage hin?
Sie sind wie geschnitten Gras.
Langsam sickert es durch mich hin,
Und ich denke dies und das.

(...)

Die Tage sind langsam und lichtig
Und fließen über die Höhn.“ (Wilhelm Lehmann ‘Lied des alternden Weingott’ in Hartung, 1998, p.113).

“Es ist, als stemmte sie mit ihren Schloten
Die Last aus Ruß und Schweiß und Lärm empor.
(...)
Am Abend erst steht auf den Backseinfallen
Der Trümmer-Umriß einer Tempelstadt
Mit Resten ungeheuer Säulenhallen
Die Dach und Stolz und Sinn verloren hat.“ (Oskar Loerke ‘Fabrikstadt’ in Hartung, 1998, p.121).

„Sieh jene Kraniche in großem Bogen!
Die Wolken, welche ihnen beigegeben
Zogen mit ihnen schon, als sie entflogen

Aus einem Leben in ein andres Leben.
In gleicher Höhe und mit gleicher Eile
Scheinen sie alle beide nur daneben.

Daß also keines länger hier verweile
Daß so der Kranich mit der Wolke teile
Den schönen Himmel, den sie kurz befliegen

Und keines andres sehe als das Wiegen
Des andern in dem Wind, den beide spüren
Die jetzt im Fluge beieinander liegen.

So mag der Wind sie in das Nichts entführen;
Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben
So lange kann sie beide nichts berühren.“ (Berthold Brecht ‘Terzien über die Liebe’ in Hartung, 1998, p.134).

“Im Fenster wächst uns klein der Herbst entgegen,
man ist von Fluß und Sternen überschwemmt,
was eben Decke war und Licht, wird Regen
und fällt in uns verzückt und ungehemmt.” (Günter Eich ‘Der Anfang kühlerer Tage’ in Hartung, 1998, p.139).

„Man frage nicht, was all die Zeit ich machte.
Ich bleibe stumm.
(...)
Das Wort entschlief, als jene Welt erwachte.“ (Karl Kraus ‘Der Tag’ in Hartung, 1998, p.146).

„Jedwedes blutgefügte Reich
Sinkt ein, dem Maulwurfhügel gleich.
Jedwedes lichtgeborne Wort
Wirkt durch das Dunkel fort und fort.“ (Oskar Loerke ‘Leitspruch’ in Hartung, 1998, p.151).

„Allein den Betern kann es noch gelingen
Das Schwert ob unsern Häuptern aufzuhalten
Und diese Welt den richtenden Gewalten
Durch ein geheiligt Leben abzuringen.

Denn Täter werden nie den Himmel zwingen:
Was sie vereinen, wird sich wieder spalten,
Was sie erneuern, über Nacht veralten,
Und was sie stiften, Not und Unheil bringen.“ (Reinhold Schneider in Hartung, 1998, p.175).

„So allein bist du nicht
in deinem Wirrwarr, Unruhe, Zittern,
auch da wird Zweifel sein, Zaudern, Unsicherheit,
wenn auch in Geschäftsabschlüssen,
das Allgemein-Menschliche,
zwar in Wirtschaftsformen,
auch dort!“ (Gottfried Benn ‘Das sind doch Menschen’ in Hartung, 1998, p.187).

„Irgendein Imperialismus
herrscht
Die Flechte am Torpfosten
Überlebt.“ Hans Magnus Enzensberger ‘Die Lehre von den Kategorien’ in Hartung, 1998, p.264).

„Vor uns lief zu blauer Weite
Eine Linie her aus Hügeln
Drüber hingen auf Bügeln
Deutsche Wälder ausgebreitet

Unser Weg zerschnitt das Weben
Raunen, Rufen, diese Gegend
Zweifach auseinanderlegend
Ihrer Gänze Grenze gebend –„ (Dieter Leisegang ‘Traum’ in Hartung, 1998, p.291).

                 und sah die Zeit
versteckt im Hohlraum einer Grotte
wie ein Fisch, den man erst dann bemerkt,
wenn er mit leichtem Flossenschlag
entschwindet.“ Michael Krüger ‘Eine alte Geschichte I’ in Hartung, 1998, p.293).

„du schläfst und liegst bei deinem haar
dein weißes bein ist aufgestellt
und ich, darauf es ruht, ich bin die welt
bedrückt von deinem schlaf, bin die gefahr
die leise deinen traum in atem hält.“ Gerhard Falkner in Hartung, 1998, p.299).

„Meine Jungsteinzeit denke ich geht nun
Zuende. Ich werfe den Faustkeil
Achtlos zur Seite bediene mich
Raffinierter Bronzefeder notiere
Seltsamen Lebensweg von mir
Selbst überflogen von
Herrlichen Wolken grauen
Wackelnden Reiher der jetzt
Niedergeht damit die
Landschaft vollständig würde.“ (Sarah Kirsch ‘Flügelschlag’in Hartung, 1998, p.316).

„Nacht, gelb
von Gewittern, die Häuser
sind leer, im kühlen Grund
wo der Holunder sich hält
schlafen die Schläfer
sich aus der Welt.“ (Werner Söllner ‘Der Schlaf des Trommlers’ in Hartung, 1998, p.319).

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