Saturday 15 November 2014

Gottfried Benn – Ausgewählte Gedichte. 1973



“Lebe wohl den frühen Tagen,
die mit Sommer, stillem Land
angefüllt und glücklich lagen
in des Kindes Träumerhand.
Lebe Wohl, du großes Werde,
Über Feldern, See und Haus,
In Gewittern brach die Erde
Zu gerechtem Walten aus.
Lebe Wohl, was je an Ahnen
Mich aus solchem Sein gezeugt,
Das sich noch den Sonnenbahnen,
Das sich noch der Nacht gebeugt.
Von dem Frühen zu dem Späten,
Und die Bilder sinken ab –
Lebe wohl, aus großen Städten
Ohne Traum und ohne Grab.” (“Lied.” Benn, 1973, p.40).

“Verlornes Ich, zersprengt von Stratosphären,
Opfer des Ion -: Gamma-Strahlen-Lamm-
Teilchen und Feld -: Unendlichkeitsschimären
Auf deinem grauen Stein vonNotre-Dame.

Die Tage gehn dir ohne Nacht und Morgen,
Die Jahre halten ohne Schnee und Frucht
Bedrohend das Unendliche verborgen –
Die Welt als Flucht.” (“Verlornes Ich.” Benn, 1973, p.48).

“Ach vergeblich das Fahren!
Spät erst erfahren Sie sich:
Bleiben und stille bewahren
Das sich umgrenzende Ich.” (“Reisen.” Benn, 1973, p.64).

“Durch so viel Formen geschritten,
durch Ich und Wir und Du,
doch alles blieb erlitten
durch die ewige Frage: wozu?

Das ist eine Kinderfrage
Dir wurde erst spat bewußt
Es gibt nu reins: ertrage
- ob Sinn, ob Sucht, ob Sage –
dein fernbestimmtes: Du mußt.

Ob Rosen, ob Schnee ob Meere,
Was alles erblühte verblich,
Es gibt nur zwei Dinge: die Leere
Und das gezeichnete Ich.” (“Das gezeichnete Ich.” Benn, 1973, p.78).

“Niemand weiß, wo sich die Keime nähren,
miemand, ob die Krone einmal blüht –
Halten, Harren, sich gewähren
Dunkeln, Altern, Aprèlude.” (“Aprèslude.” Benn, 1973, p.89).

“Ich habe mich oft gefragt und keine Antwort gefunden,
woher das Sanfte und das Gute kommt,
weiß es auch heute nicht und muß nun gehn.” (“Menschen getroffen.” Benn, 1973, p.90).

“Hör zu, so wird der letzte Abend sein,
wo du noch ausgehn kannst; du rauchst die >Juno<,
>Würzburger Hofbräu< drei, und du liest die Uno,
wie sie der >Spiegel< sieht, du sitzt allein

an kleinen Tischen, an abgrschlossenem Rund
dicht an der Heizung, den du liebst das Warme.
Um dich das Menschentum und sein Gebarme,
Das Ehepaar und der verhaßte Hund.

Mehr bist du nicht, kein Haus, kein Hügel dein,
Zu träumen in ein sonniges Gelände,
Dich schlossen immer ziemlich enge Wände
Von der Geburt bis diesen Abend ein.

Mehr warst du nich, doch  Zeus und alle Macht,
das All, die großen Geister, alle Sonnen
sind auch für dich geschehn, durch die geronnen
mehr warst du nicht, beendet wie begonnen –
der letzte Abend – gute Nacht.” (“Hör zu.” Benn, 1973, p.95).


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